Die Pflicht zur Durchführung eines sogenannten Präventionsverfahrens ergibt sich für Arbeitgeber aus § 167 Abs. 1 SGB IX. Es kommt zur Anwendung, wenn im Beschäftigungsverhältnis einer schwerbehinderten oder gleichgestellten Person personen-, verhaltens- oder betriebsbedingte Schwierigkeiten auftreten, die das Beschäftigungsverhältnis gefährden können. Ziel des Präventionsverfahrens ist es, gemeinsam mit der Schwerbehindertenvertretung (SBV), dem Betriebs- oder Personalrat und dem Integrationsamt Lösungen zu erarbeiten, um die Schwierigkeiten zu beseitigen und das Beschäftigungsverhältnis dauerhaft zu sichern.
Bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Wartezeit
Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) ist die Durchführung eines Präventionsverfahrens nicht erforderlich, wenn die Kündigung einer schwerbehinderten Person innerhalb der ersten sechs Monate nach Beginn des Arbeitsverhältnisses, also in der sogenannten Wartezeit (umgangssprachlich Probezeit), erfolgt (BAG, 8 AZR 402/14 vom 21.04.2016). In dieser Phase besteht nach § 1 Abs. 1 KSchG, §§ 173 Abs. 1, 168 SGB IX kein Kündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen.
Neue Sichtweise des Landesarbeitsgerichts Köln
Das Landesarbeitsgericht (LAG) Köln teilt diese Ansicht des BAG in einem aktuellen Urteil jedoch nicht und sieht selbst in der Wartezeit eine Notwendigkeit für ein Präventionsverfahren. Im zugrunde liegenden Fall hatte eine Kommune den schwerbehinderten Kläger (mit einem Grad der Behinderung von 80) zum 1.1.2023 als Beschäftigten im Bauhof eingestellt. Die Behinderung des Klägers beruhte unter anderem auf einem frühkindlichen Hirnschaden.
Kündigung ohne Präventionsverfahren
Während seiner Anstellung in verschiedenen Arbeitsgruppen im Bauhof traten immer wieder Probleme auf. Die Beklagte kündigte dem Kläger am 22.6.2023 innerhalb der Probezeit, ohne zuvor ein Präventionsverfahren durchzuführen. Der Kläger erhob Kündigungsschutzklage. Während das Arbeitsgericht Köln ihm Recht gab, entschied das LAG Köln zugunsten der Arbeitgeberin.
Kein Nachweis einer Benachteiligung aufgrund der Behinderung
Nach Ansicht des LAG stellte die Nichtdurchführung eines Präventionsverfahrens in diesem Fall keine Diskriminierung aufgrund der Behinderung dar. Dennoch weist das Gericht darauf hin, dass die Nichtdurchführung eines Präventionsverfahrens als Hinweis auf eine mögliche Diskriminierung im Sinne von § 22 AGG gewertet werden kann – auch dann, wenn es während der Probezeit unterbleibt. Das Gericht sieht den Arbeitgeber hier zur Durchführung des Präventionsverfahrens verpflichtet.
Präventionsverfahren auch in der Wartezeit sinnvoll
Entgegen der bisherigen Rechtsprechung des BAG sieht das LAG Köln in § 167 Abs. 1 SGB IX keine zeitliche Einschränkung der Pflicht zum Präventionsverfahren. Im Gegenteil, ein solches Verfahren kann gerade in der Einarbeitungs- oder Erprobungsphase hilfreich sein, um eine erfolgreiche Integration zu unterstützen.
Entscheidung im Einzelfall
Im konkreten Fall half diese Rechtsauffassung dem Kläger jedoch nicht weiter. Die Arbeitgeberin konnte eine Diskriminierung aufgrund der Behinderung entkräften, unter anderem dadurch, dass sie erst nach der Kündigung von den medizinischen Hintergründen der Schwerbehinderung erfahren hatte. Zudem war die Arbeitgeberin erst elf Tage vor Ablauf der Probezeit am 30. Juni 2023 über die negativen Beurteilungen des Klägers durch seine Vorgesetzten informiert worden, sodass keine ausreichende Zeit für ein ordnungsgemäßes Präventionsverfahren verblieb.
Ausblick: Revision zugelassen
Eine Revision zum BAG wurde zugelassen, wodurch eine erneute Prüfung dieser Thematik möglich wird.
Quelle: Landesarbeitsgericht Köln, Urteil vom 12.09.2024, 6 SLa 76/24
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